×

Regierungskrise: Habeck will Kanzler werden 

Foto: Heide Pinkall/Shutterstock.com | © Foto: Heide Pinkall/Shutterstock.com

Foto: Heide Pinkall/Shutterstock.com

Mitten in einer Wirtschaftskrise, mitten im Krieg in der Ukraine, mitten in großer Verunsicherung nach den Wahlen in den Vereinigten Staaten - geht jetzt die Ampel-Koalition kaputt. 

Robert Habeck hat seine Kanzlerkandidatur für die Grünen offiziell gemacht. «Ich bewerbe mich als Kandidat von den Grünen - für die Menschen in Deutschland», sagt Habeck nach einem Bericht des ARD-Hauptstadtstudios in einem Video. «Wenn Sie wollen, auch als Kanzler. Aber das ist nicht meine, das ist Ihre Entscheidung. Nur Sie können das entscheiden.»

Bereits am Vormittag war öffentlich geworden, dass der Vizekanzler seine Kandidatur am Freitag offiziell erklären würde. In der kommenden Woche möchte der Ex-Parteichef der Grünen beim Parteitag in Wiesbaden nominiert werden. Aussichtsreiche Gegenkandidaten gibt es nicht. Die Kandidatur war seit Monaten ein offenes Geheimnis. 

Seit dem Vortag ist Habeck wieder als Parteipolitiker in sozialen Medien präsent. Zuletzt trat er dort als Bundeswirtschaftsminister auf, mit Konten, die von Mitarbeitern des Hauses gepflegt wurden. Für den Wahlkampf für die Grünen darf er diese staatlichen Ressourcen nicht nutzen.

Bundeskanzler Olaf Scholz ist nach dem Aus seiner Ampel-Koalition gesprächsbereit über den Zeitpunkt einer Vertrauensfrage und der folgenden Neuwahl. Am Rande des informellem EU-Gipfels in Budapest mahnte er aber eine Einigung im Bundestag darüber an, welche Gesetze noch beschlossen werden sollen.

«Ich habe bereits am Mittwochabend angekündigt, dass ich zügig Neuwahlen in Deutschland ermöglichen möchte, damit nach dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition bald Klarheit herrscht. Über den Termin sollten wir möglichst unaufgeregt diskutieren», sagte Scholz. Gut wäre es nach seinen Worten, wenn nun im Bundestag «unter den demokratischen Fraktionen eine Verständigung darüber erreicht wird, welche Gesetze noch in diesem Jahr beschlossen werden können.» 


Auch FDP für schnelle Neuwahl

FDP-Fraktionschef Christian Dürr appellierte an seine ehemaligen Koalitionspartner, eine schnellere Vertrauensfrage herbeizuführen. Die Rumpfkoalition habe keine Mehrheiten mehr, etwa für Steuerentlastungen bei der sogenannten kalten Progression. «Machen Sie den Weg frei für diese Entscheidung, in dem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag stellt», sagte Dürr.

SPD gegen Wahlkampf über Weihnachten

SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese warnte vor einer überstürzten Neuwahl mit einem Wahlkampf an Weihnachten. Es sei ein geordneter und verantwortungsvoller Weg zur Neuwahl notwendig. Wiese sagte weiter, es stünden dringende Entscheidungen für Deutschland an: etwa für den Wirtschaftsstandort oder eine sichere Rente.

Scholz hatte angekündigt, er wolle bis Weihnachten im Bundestag alle Gesetzentwürfe zur Abstimmung stellen, die aus seiner Sicht keinerlei Aufschub duldeten. Rot-Grün hat allerdings ohne die FDP keine Mehrheit mehr im Bundestag.

Die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Irene Mihalic, sagte, es müsse einen geordneten Übergang zur Neuwahl geben.

Der Bundeshaushalt: Wenn der Staat nur noch das Nötigste kann

Der Bruch der Ampel bedeutet, dass die Rest-Regierung von SPD und Grünen keine eigene Mehrheit mehr im Bundestag hat - auch nicht für die Verabschiedung des Bundeshaushalts. Was technisch klingt, betrifft Millionen Menschen. Schon in diesem Jahr könnte es Haushaltssperren geben, wenn der Bundestag der Regierung nicht erlaubt, zusätzliche Schulden aufzunehmen. Dann könnte es zum Beispiel dazu kommen, dass Zuschüsse für den Hausbau nicht mehr fließen.

Wenn die Regierung den Etat für 2025 nicht durchbringt, beginnt das Jahr mit vorläufiger Haushaltsführung. Dann werden zwar Pflichtleistungen wie das Bürgergeld weiter gezahlt. Was nicht verpflichtend, nicht gesetzlich verankert oder schon begonnen ist, wird hingegen womöglich auf Eis gelegt.

Unklar ist zum Beispiel, ob der Preis für das Deutschland-Ticket weiter steigen muss. Oder es platzen öffentliche Bauprojekte. 

Tausende Angestellte mit Projektverträgen müssen um eine Verlängerung zum Jahreswechsel bangen. Gemeint sind zum Beispiel soziale Projekte wie ein Lesben- und Schwulenverband oder der Friedensdienst Aktion Sühnezeichen, aber auch Vereine, die sich um die Stärkung der Demokratie kümmern. Sie stehen oft ganz vorne auf der Streichliste. Konkret heißt das: Jobs fallen weg.

Kalte Progression und Kindergeld: Wenn Regierungshandeln im Geldbeutel spürbar wird

Der nun Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte eigentlich eine milliardenschwere Entlastung geplant - nicht nur für Unternehmen, sondern vor allem auch für ganz normale Bürger. Jetzt ist völlig offen, ob das wirklich kommt, denn die Rest-Regierung bräuchte dafür die Hilfe der Union.

Ab Januar sollte das Kindergeld steigen und auch der Kindersofortzuschlag für Familien mit geringem Einkommen. Gut möglich, dass das nun erstmal nicht klappt. 

Außerdem droht eine höhere Steuerbelastung. Denn die zerbrochene Ampel wollte eigentlich sicherstellen, dass Steuerzahler nicht noch mehr unter der hohen Inflation leiden. Jetzt könnte passieren, dass die sogenannte Kalte Progression nicht aufgefangen wird - dass Bürger also durch den ansteigenden Steuertarif auch dann mehr an den Fiskus zahlen müssen, wenn ihre Gehaltserhöhung nur die Inflation ausgleicht.

Fratzscher meint, darauf solle sich die Regierung jetzt erstmal nicht konzentrieren. «Es gibt dringendere Notwendigkeiten, die der deutschen Wirtschaft besser helfen würden», sagte er. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet das aber: Weniger Netto vom Brutto.

Die Psychologie: Das große Unbehagen

Nicht sofort messbar, aber für fast alle spürbar: Die Menschen in Deutschland reagieren auf Unsicherheiten, ob nun politisch oder wirtschaftlich. «Die Wirtschaft und die Bürger wollen eine gewisse Stabilität, sie wollen wissen, was auf sie zukommt», sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer. «Wir haben große Ansprüche und Erwartungen an den Staat. Das spielt bei uns eine größere Rolle als in anderen Ländern wie den USA.» 

Die Politik: Wie geht das überhaupt weiter?

Die Regierungskrise hinterlässt bei vielen grundsätzliche Zweifel. Wird Politik nach einer Neuwahl wirklich wieder ruhiger und berechenbarer? «Wir haben viele Krisen, die gleichzeitig uns belasten und verunsichern», sagt Vorländer. «Da brauchen wir eigentlich eine Richtungsanzeige. Andernfalls herrscht Angst, dass die Richtung bald wieder geändert wird.» Der Politikwissenschaftler ist sich sicher: «Je kürzer die orientierungslose Zeit ist, desto besser.»

Scholz plant mit Wahl Ende März

Scholz will am 15. Januar die Vertrauensfrage im Bundestag stellen. Eine vorgezogene Bundestagswahl könnte dann Ende März stattfinden. Merz und die Union gehen davon aus, dass die Bundestagswahl etwa bereits am 19. Januar stattfinden könnte, sollte Scholz die Vertrauensfrage schon kommende Woche stellen. Dies wäre einen Tag vor der Amtseinführung des künftigen US-Präsidenten Donald Trump. 

Bei seinem Gespräch mit Scholz am Vortag sei man im Dissens auseinandergegangen, berichtete Merz vor der Fraktion. «Der Bundeskanzler hat sich nicht in der Lage gesehen, mir plausibel zu begründen, warum er eigentlich erst in zwei Monaten die Vertrauensfrage stellt und nicht bereits in der nächsten Woche.» Seine Vermutung sei, dass der Kanzler versuchen wolle, jetzt noch Abstimmungen im Bundestag durchzuführen, die er für den Wahlkampf der SPD ausnutzen könne. 

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte: «Wir werden die herabfallenden Trümmer der Ampel nicht auffangen, sondern wir werden unsere Entscheidungen treffen nach einer Bundestagswahl.»

Robert Habeck als Kanzlerkandidat

Robert Habeck will die Grünen als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf führen. 

Habeck hatte den Schritt bereits am Vortag in sozialen Medien angedeutet. Fast sechs Jahre nach seinem Abschied von Twitter und Facebook meldete er sich auf der Plattform X zurück. «Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen ist leicht. Aber es sich leicht zu machen kann nicht die Lösung sein. Nicht heute. Nicht in dieser Woche. Nicht in dieser Zeit. Deshalb bin ich wieder auf X», heißt es in einem Post des Grünen-Politikers. Auch auf Instagram gibt es jetzt wieder einen Account von Robert Habeck. 

In einem weiteren Post ist Habeck zu sehen, wie er ein Textmanuskript redigiert. Im Hintergrund steht ein Kalender, auf dem der 8. November, also der heutige Freitag, rot umrandet ist. Dazu summt er die Melodie des Hits von Herbert Grönemeyer «Zeit, dass sich was dreht». Überschrieben ist der Post mit «Von hier an anders» – dem Titel eines Buches von Habeck. 

Tandem Habeck-Baerbock soll in den Wahlkampf ziehen

Das Verhältnis zwischen Baerbock und Habeck ist nicht unbelastet, nachdem sie sich 2021 als Kanzlerkandidatin der Grünen gegen Habeck durchsetzte. Im nun anstehenden neuen Bundestagswahlkampf wollen beide aber an einem Strang ziehen. 

Schwierige Ausgangslage und Prinzip Hoffnung

Die Chancen, tatsächlich ins Kanzleramt einzuziehen, sind für Habeck allerdings begrenzt. In Umfragen liegt seine Partei derzeit bei schlappen 9 bis 11 Prozent. Grüne verweisen an dieser Stelle gern auf die nur um ein paar Prozentpunkte besseren Umfragewerte der SPD, die ja auch einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schickt.

Wie einen Klotz am Bein schleppt Habeck die schlechte Wirtschaftslage in Deutschland mit. Er selbst erklärt die Situation unter anderem mit dem Verlust russischer Energieimporte infolge des Angriffskriegs gegen die Ukraine und verschleppten Reformen der Vorgängerregierungen. Doch als Wirtschaftsminister wird er das Thema kaum abschütteln können.

Der Bundeshaushalt: Wenn der Staat nur noch das Nötigste kann

Der Bruch der Ampel bedeutet, dass die Rest-Regierung von SPD und Grünen keine eigene Mehrheit mehr im Bundestag hat - auch nicht für die Verabschiedung des Bundeshaushalts. Was technisch klingt, betrifft Millionen Menschen. Schon in diesem Jahr könnte es Haushaltssperren geben, wenn der Bundestag der Regierung nicht erlaubt, zusätzliche Schulden aufzunehmen. Dann könnte es zum Beispiel dazu kommen, dass Zuschüsse für den Hausbau nicht mehr fließen.

Wenn die Regierung den Etat für 2025 nicht durchbringt, beginnt das Jahr mit vorläufiger Haushaltsführung. Dann werden zwar Pflichtleistungen wie das Bürgergeld weiter gezahlt. Was nicht verpflichtend, nicht gesetzlich verankert oder schon begonnen ist, wird hingegen womöglich auf Eis gelegt.

Unklar ist zum Beispiel, ob der Preis für das Deutschland-Ticket weiter steigen muss. Oder es platzen öffentliche Bauprojekte. Die Linken-Politikerin Gesine Lötzsch erwähnte im ZDF 5.000 Brücken, die saniert werden müssten: «Wir können die Dinge nicht auf die lange Bank schieben.» Es geht aber auch wieder um Zuschüsse für altersgerechtes Wohnen, klimafreundliches Bauen und anderes. 

Tausende Angestellte mit Projektverträgen müssen um eine Verlängerung zum Jahreswechsel bangen. Gemeint sind zum Beispiel soziale Projekte wie ein Lesben- und Schwulenverband oder der Friedensdienst Aktion Sühnezeichen, aber auch Vereine, die sich um die Stärkung der Demokratie kümmern. Sie stehen oft ganz vorne auf der Streichliste. Konkret heißt das: Jobs fallen weg.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, meint: «Die vordringlichste Aufgabe in den kommenden Monaten wird die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2025 sein, sonst wird der Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft noch größer.»


08.11.2024 

Gong 96.3 Live
Audiothek